Sabine, Victoria und „??“: Nach dem Sturm ist vor dem Sturm

In den letzten Jahren sind einige Sturmtiefs über Deutschland hinweggezogen. Die Liste reicht von Orkan Niklas (2015), Sturmtief Xavier (2017) und Orkantief Friederike (2018), bis hin zu Orkan Sabine und Sturmtief Victoria (beide 2020). Beim letzten Orkan Sabine wurden Windgeschwindigkeiten von bis zu 177 km/h erreicht. Selbst im Flachland wurden noch Windgeschwindigkeiten von ca. 150 km/h gemessen. Für uns Grund genug, um einmal genauer auf die Berechnungen von PV-Anlagen hinzuweisen. Denn eines ist klar – der nächste Sturm kommt bestimmt.

Bei der Berechnung von PV-Anlagen auf Dächern ist es sehr wichtig, die richtigen Parameter einzusetzen. Im Zuge der Norm DIN EN 1991-1-4, gilt es die Windzone, Geländekategorie und die Gebäudehöhe zu berücksichtigen. Aus diesen Werten ergibt sich dann der Böenstaudruck, bzw. die Böenwindgeschwindigkeit. So erreicht man eine normengerechte Dimensionierung der Unterkonstruktion mit entsprechenden Befestigungspunkten.

Darüber hinaus gibt es auch Faktoren, um den Böenstaudruck (Böenwindgeschwindigkeit) und die Schneelast zu reduzieren. Diese sind die sogenannte Schadensfolgeklasse und die Nutzungsdauer.

Was ist die Schadensfolgeklasse?

Nach der Norm DIN EN 1990:2010-12 gibt es laut Tabelle B.1 drei Klassen für die Schadensfolge.

Die niedrigste Schadensfolgeklasse ist die CC1, welche angewendet wird, wenn im Falle eines Schadens niedrige Folgen für Menschenleben und kleine oder vernachlässigbare wirtschaftliche, soziale und umweltbeeinträchtigende Folgen zu erwarten sind. Beispiel hierfür sind landwirtschaftliche Gebäude ohne regelmäßigen Personenverkehr (z.B. Scheunen, Gewächshäuser). In diesen Fällen kann und wird der Wert des Böengeschwindigkeitdruckes um 10% abgemindert.

Die nächste Schadensfolgeklasse ist die CC2. Diese greift, wenn im Falles eines Schadens mittlere Folgen für Menschenleben, große wirtschaftliche, soziale oder umweltbeeinträchtigende Folgen zu erwarten sind. Beispiel hierfür sind Wohn- und Bürogebäude sowie öffentliche Gebäude mit mittleren Versagensfolgen (z.B. ein Bürogebäude). In der Praxis sollte und wird dieser Fall am häufigsten angewendet werden. Hier kann man keine Abminderung des Böengeschwindigkeitdruckes vornehmen.

Die höchste Schadensfolgeklasse ist die CC3. Diese muss angewendet werden, wenn im Falle eines Schadens hohe Folgen für Menschenleben oder sehr große wirtschaftliche, soziale oder umweltbeeinträchtigende Folgen zu erwarten sind. Beispiel hierfür sind Tribünen oder öffentliche Gebäude mit hohen Versagensfolgen, wie beispielsweise  Konzerthallen. Im Gegensatz zu den vorherigen Szenarien, wird in diesen Fällen der Wert des Böengeschwindigkeitdruckes sogar um 10% erhöht.

In unseren Recherchen haben wir tatsächlich noch keinen Fall gefunden, bei dem die  Schadensfolgeklasse CC3 angewendet wurde. Am häufigsten wird die Schadensfolgeklasse CC1 herangezogen, was somit eine Reduzierung der Lasten um 10% bedeutet.

Was bedeutet Nutzungsdauer?

Bei den statischen Berechnungen im Hochbau werden einem Gebäude üblicherweise 50 Jahre Lebensdauer zugeschrieben. Nun gibt es jedoch auch Bauwerke (sogenannte fliegende Bauten), die nur für eine kurze Aufbauzeit bzw. Lebensdauer ausgelegt sind. Hierzu zählen Gebäude, die mit einer Lebensdauer von bis zu 25 Jahren angesetzt werden. In diesen Fällen kann man die Windgeschwindigkeiten reduzieren. Der prozentuale Wert zur Abminderung liegt bei ungefähr 10.

Bezieht man diesen Ausganspunkt nun auf eine Photovoltaikanlage, die mit einer  Lebensdauer zwischen 20 Jahre und 25 Jahre eingestuft wird, greift demnach das zweite Szenario und man kalkuliert mit einer entsprechenden prozentualen Reduzierung der Windgeschwindigkeiten.

Diese Entscheidung bleibt kritisch zu betrachten, da eine PV-Anlage immer mit der Tragkonstruktion des Gebäudes verbunden ist. Aufgrund der Einstufung von 25 Jahren wird automatisch auch die Lebenserwartung der Dacheindeckung herabgesetzt, obwohl diese – als Teil eines Gebäudes – mit 50 Jahre Lebenderwartung in der ersten oben angesprochenen Kategorie liegt.

Nimmt man nun die jeweiligen Abminderungen um 10 Prozent aus Schadensfolgeklasse und Nutzungsdauer zusammen, greift folgende Formel zur Abminderung des Böenstaudruckes: 0,9 * 0,9 = 0,81  => ca. 20%

Beispielrechnung

Nehmen wir beispielsweise ein Gebäude mit einer Höhe von 10 Metern, das in der Windzone 1 steht und sich am Rande eines Wohn- oder Industriegebietes (Geländekategorie II) befindet, erhalten wir einen generellen Böenstaudruck von 0,664 kN/m². Dies entspricht einer Windgeschwindigkeit von ca. 117 km/h.

Reduziert man nun diese Windgeschwindigkeit um die Schadensfolgeklasse und die Nutzungsdauer, erhält man folgenden Wert: 117 km/h x 0,9 x 0,9 = 95 km/h. Dies bedeutet eine Verminderung der Windgeschwindigkeit um 22 km/h.

Beispiel einer PV-Anlage mit Sturmschaden -Die starken Windböen rissen die die Solarbefestiger aus der Unterkonstruktion.

Verändert man in dem oben aufgelisteten Beispiel nun die Geländekategorie von II auf III, beträgt die laut Norm anzusetzende Windgeschwindigkeit für das gleiche Gebäude nur ca. 102 km/h.

Reduziert man hier ebenfalls die Windgeschwindigkeit mit den oben erwähnten Faktoren, dann erhält man folgenden Wert: 102 km/h x 0,39 x 0,9 = 82 km/h. In dieser Beispielrechnung wäre die die Windgeschwindigkeit bereits um ca. 35 km/h vermindert.

Allgemeiner Hinweis

Je niedriger die errechnete Windgeschwindigkeiten für das Gebäude, desto günstiger wird auch die PV-Anlage, da man weniger Bauteile in Form von Befestigungspunkten benötig. In unserer Beispielrechnung erhält man allein durch das Angeben einer anderen Gebäudekategorie einen Wertunterschied in der Windgeschwindigkeit von 35km/h. Dies ist insofern problematisch, als dass viele allein den Kostenfaktor berücksichtigen und die Ausmaße und Kräfte von Orkantiefs oftmals unterschätzen. So kommt es immer wieder vor, dass mit Gebäudeklassen oder anderen Angaben im Berechnungssystem Lücken gefunden werden, um eine möglichst kostengünstige PV-Anlage zu erhalten. Dieses birgt ein großes Risiko mit sich und kann unter Umständen fatale Folgen haben. Denn die Sturmtiefs der vergangene Jahre erreichten selbst im Flachland Windgeschwindigkeiten zwischen 130 – 150 km/h – eine Kraft, die man definitiv nicht unterschätzen darf und sollte.

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